Interview Kai Gondlach

Der Landkreis Meißen ist aus der sächsischen Kreisgebietsreform in seiner jetzigen Formation 2008 entstanden. Seine 28 Kommunen blicken auf eine mehrere Jahrhunderte umfassende Geschichte zurück. In den zum Teil ländlichen Regionen mit sukzessiv steigender Altersstruktur, zählen Attribute wie Sicherheit und Tradition. Wie kann es gelingen, das Bewusstsein für Innovation als Voraussetzung für Bestand und Weiterentwicklung - evtl. auch durch die aktuell lancierte Regionalmarketinginitiative für den Landkreis Meißen - in die Region zu integrieren?


Für mich ist es bei sämtlichen Veränderungsprozessen immer entscheidend, das "Neue" nicht als Gegenspieler zum "Alten", Bewährten, Tradierten darzustellen. Damit gewinnt man keine Sympathien. Vieles kann sich ergänzen, solange man sich rechtzeitig damit auseinandersetzt. Das ist letztlich die Kernkompetenz der Zukunftsforschung: Frühzeitig auf bevorstehende Veränderungen und teilweise Krisen hinweisen, damit der Schock dann nicht so heftig ausfällt.

Im Grunde zeichnet es die bestehenden Institutionen und Organisationen ja gerade aus, innovativ zu agieren, vielleicht ist nur das Verständnis davon manchmal nicht auf dem neuesten Stand. Ohne Veränderungsbereitschaft funktioniert auch Tradition nicht, denn beide finden ja nicht im luftleeren Raum statt. Da ist es auch durchaus legitim, wenn er oder sie sich mit vergleichbaren Regionen, Unternehmen oder Zielgruppen beschäftigt und davon inspirieren lässt.

Nicht alle müssen auf die neuesten Technologien oder Marketing-Maßnahmen setzen - doch sie sollten sich regelmäßig über die Bandbreite an Möglichkeiten informieren. Mit einer offeneren Einstellung gegenüber Innovationen werden Arbeitgeber so auch attraktiver für Fachkräfte, das ist also immer eine Win-Win-Situation.

Aus Sachsen traten schon viele innovative Ideen ihren Siegeszug an: Hier wurden Carbonbeton, Bücher aus Graspapier, das Büro to go, Teebeutel und sogar die erste Tageszeitung erfunden. Hiesige Stahlunternehmen setzen auf grünen Stahl, am Sächsischen Landesgymnasium St. Afra entwickeln Hochbegabte neue Businessideen, 2019 wurde die Innovationsakademie des Handwerks initiiert …. Es gibt viele Beispiele für die Innovationskraft in der Region. Wo fängt Ihrer Meinung nach Innovation an? Wodurch zeigt sich innovatives Denken und Handeln? Was sind die Voraussetzungen dafür?


Innovation fängt da an, wo ich Bestehendes hinterfrage und die - manchmal unbequemen Antworten - dann auch zulasse. Die Idee kann von der Geschäftsführung kommen, wahrscheinlicher aber auch von Azubis oder Vorruheständlern. Letztlich geht es vor allem darum, diesen Ideen dann auch durch geeignete Maßnahmen den entsprechenden Raum zu geben.

Konkret: Die Unternehmenskultur muss Einwände und Bedenken ernst nehmen, auch, oder gerade wenn sie den Kern des Geschäftsmodells betreffen. Natürlich muss aber auch das nötige Kleingeld vorhanden sein, um beispielsweise ergonomische Büromöbel oder meinetwegen einen Tischkicker im Pausenraum anzuschaffen, oder sogar in komplett neue Produktionsverfahren wie 3D-Druck oder eine Cloud-Infrastruktur zu investieren. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg - die öffentlichen Fördermittel liegen fast auf der Straße, auch private Investoren und Business Angels bieten eine tolle Möglichkeit auch für kleinere und mittelständische Unternehmen, in die Modernisierung der Infrastruktur oder die Neuausrichtung zu investieren.

Wenn Sie mit KMU zu tun haben, welche sich bisher noch nicht bewusst mit Innovationen auseinandergesetzt haben, was könnten erste Schritte sein, um Grundlagen dafür zu schaffen?


Klassischerweise werde ich erst eingeladen, wenn die Geschäftsführung oder der Vorstand das Problem bereits erkannt haben. Die Offenheit für Neues, für einen bevorstehenden Veränderungsprozess und den Transformationsbedarf sind natürlich das A und O. In der Regel wird dies aus der Unternehmensspitze "nach unten" weitergegeben, was nicht von heute auf morgen geht. Voraussetzung dafür ist ja auch eine gewisse Identifikation der Arbeitnehmerseite mit dem Unternehmen "von unten" - insofern haben wir es nie mit linearen Prozessen und pauschalen Patentrezepten zu tun, die überall gleich funktionieren.

Einige haben vielleicht Aufholbedarf beim Personalmarketing nach innen und außen, bei anderen ist die traditionelle Organisationsstruktur ein Hemmschuh für ambitionierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mehr Mitbestimmung erwarten. Bei vielen hakt es noch bei der Digitalisierung einfacher Prozesse bzw. Neudefinition sinnvoller, digitaler Wege für ein größeres Problem. Manchmal muss man sogar bei den Kernprodukten oder -dienstleistungen ansetzen. Den ersten Schritt haben diejenigen, die dieses Interview lesen, längst erledigt: Sie haben bereits ein Interesse für neue Gedanken und Ansätze ihrer Situation.

 

In der Region sind große Unternehmen, wie bspw. Feralpi Stahlwerke, Wacker Chemie, Koenig & Bauer oder Kronospan angesiedelt. Es besteht eine sehr gute Auslastung der Industrie- und Gewerbegebiete, es können steigende Einpendlerzahlen sowie eine sinkende Arbeitslosenquote verzeichnet werden. Gleichzeitig scheint es für Großstädte, wie das naheliegende Dresden, einfacher zu sein, den Fachkräftebedarf aufgrund einer höheren Dichte an Bildungs-, Kultur- und Gesundheitsangeboten sowie der niedrigeren Altersstruktur urbaner Gebiete zu decken. Dies hat weitreichende Folgen für die Nachfolge, Produktion, Nachwuchsgewinnung und Ausbildung der Unternehmen. Wie können sich Unternehmen in eher ländlichen Strukturgebieten attraktiver für potentielle Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt machen?


Ich bin ein großer Fan ehrlicher und transparenter Kommunikation. Ländlichere Gebiete können in manchen Facetten vielleicht nicht mit den Ballungsgebieten mithalten, doch sie haben auch Vorzüge, die umgekehrt in Großstädten fehlen: Mehr Natur, weniger Lärm und mehr Distanz zum Nachbarn. Man kennt sich, man hilft sich, man identifiziert sich mit der Region.

Für Arbeitgeber in industrie- und handwerksnahen Bereichen ist es natürlich schwierig bis unmöglich, Homeoffice für die Angestellten anzubieten - da sollte eher der Hinweis auf den Zusammenhalt in der Belegschaft vor Ort oder eine gute Unternehmenskultur eintreten. Es wird auch in 100 Jahren noch Menschen geben, die lieber "auf dem Land" leben und arbeiten - doch die nutzen auch Online-Suchmaschinen und -Stellenbörsen sowie Social Media, also muss ich dort als Arbeitgebermarke sichtbar sein.

Im Kern jeder Kommunikation steht indes der übergreifende Unternehmens- oder Markenzweck, der oft ja auch eingedeutscht "Purpose" genannt wird. Für viele ist daher der erste Schritt, diesen Purpose herauszuarbeiten, beispielsweise ist das Kernprodukt die Versorgung ganzer Branchen mit Stahl, damit Brücken, Fahrzeuge, Gebäude stabil sind und den herausragenden Belastungen des Alltags trotzen können. Dafür braucht es dann auch eine sehr stabile Unternehmenskultur, die wiederum attraktiv auf die Fachkräfte wirken kann. Und dann muss ich noch herausfinden, wo denn diese Fachkräfte jetzt gerade sind, wie ich sie am besten anspreche, gewinne und schließlich, wie ich sie an mich binde.

Mit neuer Arbeit verbinden die meisten Menschen: Remote Work, Work-Life-Balance, Sinnhaftigkeit und kooperatives Arbeiten mit Raum für Kreativität und Selbstwirksamkeit. Wie lässt sich New Work auf ein produzierendes Industrieunternehmen adaptieren?


Wie in jedem anderen Bereich eignet sich für viele Unternehmen das Herausstellen neuerer Produktionsverfahren wie 3D-Druck, Prozessoptimierungen wie BIM (building information modelling), digitale Zwillinge im Metaverse sowie eine Entkrampfung des Arbeitsalltags. Einige Unternehmen sollten sicherlich für das Arbeitgebermarketing einen Tiktok-Kanal betreiben, andere sind auf Facebook oder Instagram besser aufgehoben. Eine moderne, innovative Arbeitswelt gibt es überall, aber sie muss auch nach außen sichtbar und der Zielgruppe entsprechend kommuniziert werden.

Übergreifend ist es aus meiner Sicht grundsätzlich wichtig, sich mit Hochschulen, Verbänden und Kammern auszutauschen, um beispielsweise Praktika und Lehrstellen direkt dort auszuschreiben, wo die zukünftigen Fachkräfte sind - und um schneller über Innovationen informiert zu werden. Selbst im herstellenden Bereich ist Remote Work nicht mehr grundsätzlich tabu, wenn Fertigungsroboter einen wachsenden Anteil der körperlichen Arbeit übernehmen und der Mensch an manchen Stellen lediglich kontrolliert oder fernsteuert. Warum soll ich das nicht remote machen können?

Was würden Sie einem kleinen oder mittelständischen Unternehmer empfehlen, der jeden Tag 16 Stunden arbeiten muss, um seine Existenz zu sichern, dem schlicht die zeitlichen und finanziellen Kapazitäten fehlen, um für sich und sein Team innovativen Raum zu schaffen? Gibt es Möglichkeiten zur Unterstützung für diese Unternehmen?


Das hängt davon ab, wie hoch der Leidensdruck ist. Manche arbeiten durchaus gern sehr viel und wollen gar nicht Klassenbester werden. Aber wenn wir von denen ausgehen, die als Getriebene keine andere Wahl sehen, sage ich ganz deutlich: Hört auf. Wenn es offensichtlich keine Bereitschaft in der Kundschaft gibt, höhere Preise zu bezahlen und einen entspannteren Lebensstil zu ermöglichen, der nicht auf Selbstausbeutung und Raubbau am eigenen Körper und Geist basiert, sollte lieber früher als später die Reißleine gezogen werden. Es hat ja niemand etwas davon, wenn dann endlich die Rente kommt und kurz darauf der Herzinfarkt. Die sozialen Netze und vorübergehende Arbeitslosigkeit sind sicherlich nicht perfekt, doch sie geben Raum für eine Neuorientierung. Viele Unternehmen haben sich auch schlicht verrannt und den Anschluss verloren, gleichzeitig findet in der Gesellschaft ein Umdenken statt und es wird nicht mehr als negative Eigenschaft gesehen, wenn ein Unternehmer oder eine Unternehmerin "gescheitert" ist. Es wird vielmehr als positiv und bewundernswert empfunden, wenn jemand nach einer Unternehmenspleite den Neustart schafft - ob nun selbstständig oder angestellt. Es gab wohl nie eine bessere Situation, um als Quereinsteiger den Neuanfang zu starten, denn alle Unternehmen suchen qualifiziertes Personal. Auch für Existenzgründungen steht wahnsinnig viel Kapital zur Verfügung - man muss sich nur sehr genau an die Vorgaben der Geldgeber halten.

Wenn es noch nicht ganz so weit ist, empfehle ich regelmäßige Gelegenheiten zu schaffen, um aus dem Alltagstrott auszusteigen und sich mit der erweiterten Perspektive aufs eigene Handeln, Unternehmen und die Zukunft zu beschäftigen. Und ich meine nicht den Jahresurlaub, sondern mindestens quartalsweise eine mindestens zweitägige Auszeit, einen strukturierten Tapetenwechsel, gern mit dem Team. Das klingt nun erst einmal paradox, aber diese zwei Tage Verschnaufpause bringen langfristig sehr viel wertvollere Perspektiven als der Verbleib im Hamsterrad.

 

Das Interview wurde schriftlich im Mai 2023 mit Kai Gondlach durchgeführt.  Das Urheberrecht für Text und Bild liegt bei ihm.

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